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Die Wahrheit über die Rückführungen von Migranten im Mittelmeer nach Libyen

105 gerettete Personen auf einem Schiff von Proactiva Open Arms warteten 24 Stunden um die Genehmigung zu bekommen auf ein grösseres Schiff nebenan gebracht zu werden. © Open Arms

Italien steht unter dem Verdacht, Migranten und Asylsuchende aus internationalen Gewässern nach Libyen zurückzuschieben. Solche Aktionen sind illegal, erkennt eine europäische Quelle Salam Plan an. Aber die Europäische Kommission bestreitet, dass dies geschieht.

Ein Boot mit 130 Menschen an Bord ist in der Nähe von der libyschen Küste in Not. Das Rettungsschiff der deutschen NGO Sea-Watch kommt an, um sie zu retten. Doch auf Anweisung der Italienischen Seenotrettungsleitstelle (IMRCC) und ihrer libyschen Partner, müssen sie die Überlebenden der Küstenwache des nordafrikanischen Landes zurücklassen. Es spielt keine Rolle, dass sie in internationalen Gewässern waren.

Ungefähr zwanzig Passagiere des Bootes starben, auch Kinder. Diejenigen, die von den libyschen Küstenwächtern zurück gebracht wurden, erlitten Festnahmen „unter unmenschlichen Bedingungen“, Prügeleien, Erpressung, Hunger und Vergewaltigung. Zwei der Überlebenden wurden „verkauft und mit Stromschlägen gefoltert“.

17 der Überlebenden dieses Ereignisses von November 2017 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine Anklage gegen Italien eingereicht und diese Version verteidigt. Sie werden von verschiedenen juristischen und medizinischen Verbände vertreten, einschließlich der renommierten Yale Law School.

Sea-Watch prangert schon seit längerer Zeit ähnliche Episoden in internationalen Gewässern an und beschreibt sie als „illegal und tödlich“. Sie versichert, dass diese automatische Rückführungen (sogennante Pull-backs) nicht nur von Italien, sondern auch von der Europäischen Union organisiert werden, die sie dafür verantwortlich machen, „die Zwangsrückführung nach Libyen zu erleichtern“.

„Rückführungen nach Libyen sind illegal und tödlich“

— Sea Watch

Ärzte ohne Grenzen (MSF) hat auch Italien kritisiert. Am 30. März teilte ihnen die Leitungsstelle in Rom bei ein Schlauchboot mit etwa 120 Personen an Bord wäre „in Seenot geraten“. Das Schiff was von MSF zusammen mit SOS Mediterranée betrieben wird um Menschen im Mittelmeer zu retten, machte sich auf den Weg. Das Schlauchboot war dieses Mal auch in internationalen Gewässern in der Nähe von Libyen und MSF behauptet, das Zentrum in Rom habe sie am Ende angewiesen die Leute nicht zu retten. Sie durften nur daneben bleiben und warten bis die libysche Küstenwächter eintrafen.

Die Situation des Bootes verschlechterte sich und die NGOs verhandelten, den Menschen Rettungswesten liefern zu können und auch ihre Gesundheitsbedingungen zu bewerten. Sie identifizierten 39 „medizinische und vulnerabel Fälle“ und konnten diese evakuieren. Unter ihnen gab es ein Neugeborenes, eine schwangere Frau und Familien mit Kindern.

Aufgrund der in letzter Zeit „heftigen Reaktionen der libyschen Küstenwache auf die wenigen anderen NGOs“ die noch in der Zone arbeiten, konnten sie die Rettung nicht vollenden, erklärte MSF später. Sie hatten nämlich bereits andere 253 Leute von anderen Rettungseinsätzen an Bord und die Libyer befahlen ihnen zu gehen.

Ein anderer Fall ist der der spanischen NGO Proactiva Open Arms, deren Rettungsschiff „Open Arms“ in Italien kürzlich zurückgehalten wurde, bis ein Richter ihn wieder freiliss. Zwei Mitglieder der Organisation, die sich aus Rettungsschwimmern zusammensetzt, wurden aber wegen angeblichen Menschenhandel angeklagt. Sie sind schon unschuldig gesprochen worden, wie auch vor kurzem drei spanische Feuerwehrmänner der kleinen NGO Proem-AID für eine ähnliche Anklage in Athen.

Proactiva hat bereits im vergangenen Sommer an die Öffentlichkeit gebracht, dass die libyschen Küstenwächter schossen, um zu verhindern, dass sie Menschen in der Nähe ihrer Hoheitsgewässer retten konnten.

„Europäische Regierungen setzen aktiv Maßnahmen zur Abschreckung und Eindämmung in Libyen durch“

– Ärzte ohne Grenzen (MSF)

Dies sind nur einige Beispiele. Die Fälle von Rückführungen die von Hilfsorganisationen gemeldet werden, häufen sich. MSF, dass traditionell politische Erklärungen vermeidet, um unparteiisch zu bleiben, sagte: „Ärzte ohne Grenzen ruft die europäischen Regierungen weiterhin dazu auf, der Sicherheit von Flüchtlingen und Migranten Vorrang einzuräumen, anstatt eine Politik der Abschreckung und Eindämmung in Libyen aktiv durchzusetzen.“

Libyen ist „die Hölle für Flüchtlinge“

Die UN-Flüchtlingsorganisation (UNHCR) hat Zugang zu 12 „Bordpunkten“ an der Westküste Libyens sowie zu den Verwahranstalten. Sie behauptet das Land sei eine „Todesfalle“ und „die Hölle für Flüchtlinge“. Darüber hinaus erklärt die Organisation in ihrem jüngsten Bericht „Desperate Journeys“, dass diejenigen, die vom Meer nach Libyen zurückkehren, systematisch in Haftzentren landen.

Weitere von UNHCR erhobene Daten: Die Zahl der Toten auf See nach Italien hat sich „mehr als verdoppelt“: In den ersten drei Monaten 2018 ergab sich ein Todesfall jede 14 Personen die versuchten das Mittelmeer zu durchqueren, im Vergleich zu einem Todesfall pro 29 Personen im selben Zeitraum letztes Jahres. Die Ankünfte in Italien haben sich seit Juli 2017 „stark“ reduziert; gleichzeitig erhöhten sich die Rettungseinsätze der libyschen Küstenwächter.

„Mehr und mehr Menschen erreichten Italien von Libyen aus extrem schwach, dünn und in einem generell schlechten Gesundheitszustand“

— UNHCR

„Zusätzlich war der Gesundheitszustand jener Menschen, die aus Libyen ankamen, deutlich schlechter als im Jahr davor. Mehr und mehr Menschen erreichten Italien extrem schwach, dünn und in einem generell schlechten Zustand“, berichtete UNHCR im April.

Der Faktor der sich zwischen Anfang 2017 und heute geändert hat ist das Abkommen, das Italien im Februar letzten Jahres mit der einzigen international anerkannten Regierung in Libyen unterzeichnet hat. Rom bietet ihr die notwendigen Mittel und Schulungen an, um die internationalen Gewässer in der Nähe des nordafrikanischen Landes zu überwachen. Es stimmt auch, dass der UNHCR selbst anerkennt, dass dank Italien und der libyschen Regierung (eine von dreien, die im gescheiterten Staat um die Macht kämpfen) es ihnen gelungen ist, mehrere hundert Flüchtlinge sicher zu evakuieren. Aber lassen sie uns dies Schritt für Schritt angehen.

Die Europäische Kommission wird keine Maßnahmen gegen Italien ergreifen

Die Europäische Kommission (EK) versichert, dass Zwangsrückgänge oder Pullbacks nach Libyen rechtswidrig sind, wie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2012 klarstellte. In der Praxis aber leugnet die EK teilweise, dass dies jetzt in internationalen Gewässern geschieht und teilweise verschließt sie die Augen davor.

Der Standpunkt der Kommission wurde in den Antworten ihrer Sprecherin, Natasha Bertaud, während einer Pressekonferenz vor einigen Tagen bestätigt. Auf Drängen mehrerer Journalisten über die Passivität der Kommission, sagte sie: „Europäische Boote, einschließlich italienischer Boote, handeln in voller Achtung des Non-Refoulement Prinzips (Verbot der Abschiebung)“. Es gibt daher keinen Hinweis auf eine Sanktion oder Warnung für Italien, wie es mit Polen und Ungarn in anderen Angelegenheiten geschieht.

„Europäische Boote, einschließlich italienischer Boote, handeln in voller Achtung des Non-Refoulement Prinzips“

— Natascha Bertaud, Europäische Kommission

Bertaud argumentiert, dass sie sich nicht in ein Problem einmischen können, das ihrer Meinung nach von Regelungen außerhalb der europäischen abhängt. Aber Artikel 7 des Vertrags über die Europäischen Union besagt, dass Maßnahmen gegen einen Mitgliedstaat ergriffen werden können, wenn er die Grundwerte der Union nicht respektiert. Zu ihnen gehören „Achtung der Menschenwürde“, „Achtung der Menschenrechte“ und „eine Gesellschaft, in der [unter Anderem] Solidarität vorherrscht“ (Artikel 2).

Die Sprecherin der Kommission bezeichnete einen weiteren Vorfall als „bedauerlich“, mit dem Italien und das Vereinigte Königreich vor kurzem konfrontiert wurden. 105 Menschen, darunter Kinder, wurden von einem anderen Proactiva-Schiff auf See gerettet. Sie mussten mehr als 24 Stunden warten, bevor sie in dem von MSF, das direkt daneben lag, verlegt werden konnten. Der Grund? Italien versicherte ihnen, dass sie nicht unter ihrer Zuständigkeit stünden, sondern unter den Briten.

Der Pakt Italiens mit einem gescheiterten Staat

Dass derzeit Migranten nach Libyen zurückgeschickt werden ohne ihnen die Möglichkeit zu geben sich nach Asyl zu bewerben, ist eine Tatsache, so Wolfgang Pusztai. Er ist ein Libyenexperte, der die Situation vor Ort aus erster Hand kennt und sowohl die EU als auch Italien beratet.

„Derzeit wird eine sehr große Anzahl an Migranten noch innerhalb der libyschen SAR Zone [Such- und Rettungsregionen im Meer] mit Unterstützung des MRCC Rom und der italienischen Marine – durch Information über den Standort der Migrantenboote- abgefangen und wieder nach Libyen zurücktransportiert“, bestätigte er Salam Plan.

„Ob das Zulassen des Rücktransportes nach Libyen durch die libysche Küstenwache aus europäischer beziehungsweise italienischer Sicht legal ist oder nicht, hängt davon ab, wie man die Zustände in den libyschen Lagern bewertet“, erklärt Pusztai. Wir wissen bereits, was UNHCR darüber denkt, und es ist eine Agentur, mit der die Europäische Kommission in diesem Land zusammenarbeitet. Pusztai würde die auf See gefundenen Migranten nicht zurückschicken.

Die im letzten Jahr von Italien und der libyschen Regierung des National Accords unterzeichnete Vereinbarung hat zu einer Zusammenarbeit bei der Überwachung und Rettung von Schiffen mit Migranten außerhalb der libyschen Hoheitsgewässer geführt, aber in einem Gebiet, wo theoretisch der nordafrikanische Staat verantwortlich sein müsste. Das Mittelmeer ist in Such- und Rettungszonen (SAR) unterteilt, und Italien ist seit Jahren für das Gebiet verantwortlich, das jetzt von Rom und Brüssel nach Tripolis verlegt werden will.

Derzeit wird eine sehr große Anzahl an Migranten abgefangen und wieder nach Libyen zurücktransportiert

– Wolfgang Pusztai, Sicherheitsberater der EU und Italiens

Damit dies möglich ist, gibt es ein Projekt eines libyschen Zentrums für maritime Koordinierung (LMRRC), wie es in Rom für die Koordination von Rettungen im zentralen Mittelmeerraum gibt. Es ist eine Initiative der italienischen Küstenwache, die von der Europäischen Kommission finanziert wurde, „mit dem Ziel, eine Machbarkeitsstudie durchzuführen, um einen libyschen MRCC zu etablieren und die libyschen Behörden bei der Identifizierung und Erkärung ihrer Such- und Rettungsregion zu unterstützen“.

Das sagten sie der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO). Dieses Zentrum in Libyen ist unerlässlich, um gemäß den internationalen Seerechten eine SAR-Zone ausweisen zu können. Obwohl ein IMO-Vertreter Salam Plan erklärt hat, dass es die Länder sind – und nicht diese Organisation -, die die Legitimität eines SAR-Gebiets anerkennen oder nicht.

Die Komplexität der gesamten Situation ist darauf zurückzuführen, dass Libyen ein gescheiterter Staat ist. Seit dem Sturz des Diktators Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 ist das Land in ein Chaos gestürzt. Die drei parallelen Regierungen des Landes kämpfen nicht nur untereinander, sondern auch mit Milizen und Terroristen wie Daesh/IS um territoriale Macht. Die von westlichen Ländern anerkannte Autorität ist die bereits erwähnte Regierung des National Accords, die nur die Stadt Tripolis kontrolliert, und nicht einmal vollständig, laut Pusztai.

Ausserdem handelt Italien nicht allein aufgrund des Abkommens mit dieser Regierung und mit einem halbumgesetzten libyschen SAR-Gebiet, sondern als Teil der sogenannten „Operation Sophia“. Es ist die militärische Aktion der EU vor den libyschen Küsten, um irreguläre Einwanderung und Menschenhandel zu verhindern und gleichzeitig die in Not geratenen Boote zu retten, wie vom Seerecht verlangt. Teil dieser Operation ist auch libysche Küstenwächter zu trainieren und ihnen die nötige Mitteln zu verschaffen.

Ein Bericht der Beratungsfirma Oxford Analytica für den Europäischen Rat aus dem Jahr 2017 erkennt an, dass „die Rettung/ Überwachung von Migranten in der libyschen SAR-Zone Fragen nach dem für die Rettungsaktion verantwortlichen Staat und dem Hafen der Ausschiffung stellt“. Gleichzeitig erinnert es daran, dass das SAR-Abkommen nicht dazu verpflichtet, die Ausschiffung in einem bestimmten Hafen zu gestatten; es verpflichtet auch keinen Staat, die geretteten Leute zu akzeptieren.

Die Pull-backs aus internationalen Gewässern, die von Hilfsorganisationen angeprangert werden, finden in dem theoretisch für Libyen ausgewiesenen Gebiet statt. Rom bleibt die rechtliche Autorität für die NGO-Schiffe, aber Italien koordiniert mit der libyschen Küstenwache und mit ihnen.

Die Gefahren des libyschen Chaos

Im Jahresbericht von Amnesty International 2017/18 heißt es, dass alle Konfliktparteien in Libyen „wahllose sowie gezielte Angriffe“ verübten, „schwere Verletzungen“ des Völkerrechts und des Menschenrechts begingen. Folter und andere Misshandlungen „waren an der Tagesordnung“ in Gefängnissen. „Migranten, Flüchtlinge und Asylsuchende wurden Opfer schwerer und systematischer Menschenrechtsverletzungen und -verstöße durch Angehörige staatlicher Stellen, Schleuser und bewaffnete Gruppen“ ausgesetzt, heißt es in der Studie.

Es gibt auch Zeugnisse von Migranten, die behaupten, in Libyen als Sklaven verkauft worden zu sein; ein Umstand, der vom Sicherheitsexperten Pusztai bestätigt wird. Jedoch bestreitet er, dass dies in großem Umfang geschieht.

„Viele von denen, die auf dem Seeweg nach Italien kommen, sind Personen, die vor Gewalt und Verfolgung fliehen, und Menschen, die in Libyen Menschenhandel, Folter und andere Formen des Missbrauchs erlebt haben“

– -UNHCR

Mehr als 662.000 Migranten in Libyen sind diesen Gefahren ausgesetzt. Die Internationale Organisation für Migration (IOM), die im Land präsent ist, zählte vor kurzem 5.000 Migranten, darunter auch Kinder.

Darüber hinaus sind etwa 51.500 Flüchtlinge und Asylsuchende beim UNHCR registriert. Dies ist ohne die Libyer selbst die in ihrem Land vertrieben wurden: 184.000 von ihnen haben hilfe bei der UN Organisation gesucht.

Dies bedeutet nicht, dass andere Migranten in Libyen keinen Anspruch auf Asyl in Europa haben. Tatsächlich erklärt UNHCR in seinem jüngsten Bericht, dass „viele von denen, die aus Libyen auf dem Seeweg nach Italien kamen, internationalen Schutz suchten. Darunter gab es Personen, die vor Gewalt und Verfolgung flohen, und Menschen, die in Libyen Menschenhandel, Folter und andere Formen des Missbrauchs erlebt haben“.

„Das derzeitige Aufnahmesystem bleibt trotz der jüngsten Verbesserungen inakzeptabel, da Migranten nach ihrer Rückkehr in Haft bleiben“

— Internationale Organisation für Migration (IOM)

In der Bilanz dieses Monats über Libyen, hat die IOM die Arbeit der Küstenwachen von Tripolis, die in den letzten Monaten jedes dritte Boot zurück gebracht haben, positiv bewertet. Aber gleichzeitig warnte diese andere Organisation der UN: „Das derzeitige Aufnahmesystem ist trotz der jüngsten Verbesserungen inakzeptabel, da Migranten nach ihrer Rückkehr in Haft bleiben.“

Pusztai, der früher erwähnte Berater von Rom und Brüssel, zeigt sich besorgt über die „Belästigung“ der libyschen Küstenwächter gegen die NGOs, „um sie möglichst zu vertreiben“ und zeigen, dass sie „die einzigen sind, die in dieser Search and Rescue Zone retten dürfen“. Warum bestehen sie so darauf, die Menschen zu übernehmen, die in internationalen Gewässern mit den Schlauchbooten untergehen (wenn auch in ihrem theoretischen Verantwortungsbereich)?

„Das hängt mit Sicherheit auch damit zusammen, dass die Italiener und die Europäer auch den entsprechenden Druck aufbauen. Das ist gar keine Frage“, sagt er. „Das Government of National Accord (von Libyen) ist politisch vollkommen von der internationalen Unterstützung abhängig.“

Die Verantwortung der EU

In dem erwähnten Dokument des Europarates heisst es, dass „ein sicherer Ort“ für die Schiffbrüchigen im Einklang mit der Genfer Konvention „ein Ort auf trockenem Land ist, wo das Leben und die Freiheit derer, die eine begründete Angst vor Verfolgung haben, nicht von Folter und Misshandlung bedroht sind“. Dennoch interpretiert das jede Regierung und jedes europäische Organ anders.

Der sozialistischer Europaabgeordnete Juan Fernando López Aguilar lehnt strikt ab, dass Libyen ein sicheres Land ist, in das Migranten oder Asylbewerber zurückgeschickt werden: „Rundweg, nein“. Zu Italien, betont dieser Mitglied des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments, dass Rom „Vorstrafen hat (und das Land ist) vom Europäischen Parlament unter dem Auge hält, aber das hindert einem nicht daran zu erkennen, dass Italien seine eigenen Ressourcen investiert hat, um Leben auf See zu retten“.

Ist Libyen ein sicheres Land, in das Migranten oder Asylbewerber zurückgeschickt werden sollten? „Rundweg, nein. Es ist ein „Nicht-Staat“, in dem Italien leider gezwungen war, nach lokalen Partnern zu suchen „

— Juan Fernando López Aguilar, Europaabgeordneter

Er ist der Ansicht, dass die italienische Staatsanwaltschaft wirklich unabhängig ist und die spezifischen Fälle von angeblichen automatischen Rückführungen beurteilen kann. Er glaubt aber nicht, dass Italiens Gesamtarbeit im zentralen Mittelmeerraum mit der Handlung in den spanischen nordafrikanischen Städten von Ceuta und Melilla vergleichbar ist. Spanien wurde vom Straßburger Gerichtshof wegen automatischen Rückführungen dort verurteilt.

„Libyen war ein gescheiterter Staat, jetzt ist es ein ‚Nichtstaat‘ (…), in dem Italien leider gezwungen war, nach (lokalen) Partnern zu suchen, um den enormen Druck zu mildern, den es jahrelang allein erleiden musste“, denkt López Aguilar. Er fügt eine entscheidende Bemerkung hinzu, um die Sicherheit von Libyen zu beurteilen: Unter jenen Gesprächspartnern, mit denen Rom „eine gewisse Verständigung erreicht hat“, gibt es nicht nur Milizen miteinbezogen, sondern auch Menschenhandelsnetzwerke.

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Eine europäische Quelle, die mit dem Terrain vertraut ist und nach Anonymität verlangt, versichert Salam Plan trotz allem: „Libyen scheint mir nicht gefährlich zu sein (…). Es hängt sehr von der Gegend ab. Bei Einwanderern ist der von Tebus und Touaregs kontrollierte Süden viel gefährlicher als die Abreisegebiete an der Küste. Westliches Libyen, in der Nähe von Tunis, ist relativ ruhig.“

Die Quelle erkennt jedoch an, dass in Libyen „Immigranten nicht wie in Europa geschützt werden können, vor allem, wenn sie Flüchtlinge sind“. Auf die Frage nach den „Rückführungen von Migranten, die im Mittelmeer aufgegriffen wurden und im Auftrag des Zentrums von Rom nach Libyen zurückkehrten“, erkennt diese Person an, dass „dies nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) illegal ist. “

Der Fall, auf den sich die Entscheidung bezog, war auch gegen Italien, das im Mai 2009 ein Schiff in der Mitte des Mittelmeeres mit 834 Menschen an Bord abgefangen und nach Libyen zurückgebracht hatte. Zu dieser Zeit regierte Gaddafi immer noch das Land, aber das Arbeitsdokument des Europäischen Rates unterscheidet den juristischen Fall nicht von der Gegenwart: „Wie der EGMR festgestellt hat, (…) kann Libyen nicht als ‚Sicherheitsort‘ betrachtet werden, wegen der vielfaltigen Dokumente über ihre unzureichende Reaktion auf Migrantenströme und Asylbewerber.“

Die Europäische Kommission behauptet daher, dass automatische Rückführungen illegal sind, bestreitet jedoch, dass sie jetzt geschehen. Andererseits erklärt die Kommission Salam Plan, dass sie mit UNHCR und IOM „die Bedingungen für die in Libyen eingeschlossene Menschen verbessern“. Sie arbeiten auch zusammen, um Migranten legal zu evakuieren; dies hieße manchmal sie werden in ihre Herkunftsländer zurückgebracht.

In den letzten drei Monaten konnte UNHCR mehr als 1.000 Asylbewerber und Flüchtlinge sicher nach Italien und Niger evakuieren. Die UN Agentur für Flüchtlinge bemüht sich jedoch weiterhin um Zugang zu allen Migranten und Asylsuchenden in Libyen, um ihre Anfrage zu bewerten.

„Alles deutet darauf hin, dass die automatische (illegale) Rückführungen weiterhin steigen werden. Es passiert immer öfter“

— Laura Lanuza, NGO Proactiva Open Arms

Pusztai meint, dass die Europäische Kommission mit Ungarn und Polen „viel strenger war als mit Italien“. Er erklärt, gerade wegen der unsicheren Lage in Libyen seien eventuelle Ermittlungen vor Ort „sehr schwierig“ durchzuführen. Dennoch glaubt dieser Experte, dass die Berichte von UNHCR und IOM zuverlässig sind. „Es dreht sich auch hier alles um die Frage, was ist noch ‚akzeptabel‘. Die Antwort der Italiener ist offensichtlich“, stellt er fest.

Es darf nicht vergessen werden, dass die EU auch die libyschen Küstenwächter ausgebildet und finanziert hat, ebenso das Projekt eines möglichen maritimen Kontrollzentrums in Libyen.

Mögliche kurzfristige Lösungen

„Viele von uns beschweren sich seit langem gegen Heuchelei, dass die EU weiterhin so genannte irreguläre Migranten – auch wenn sie Asylsuchende sind – zurückschickt, ohne eine Option für eine Herkunftsregulierung zu geben“, bedauert der EU Abgeordnete López Aguilar. Er befürwortet „humanitäre Visa“, die eine beschränkte Einreiseerlaubnis geben würden, nur um den Asyl- oder subsidiären Schutzantrag einmal in der EU stellen zu können, wenn sie ihn nicht in ihren Herkunftsländern vorlegen können.

Pusztai schlägt eine weitere mögliche Übergangslösung vor: den Bau von Migranten- und Flüchtlingslagern auf unbewohnten oder kaum besiedelten Inseln des Mittelmeers, an denen diese Menschen ihre Anträge stellen können. Die europäischen Behörden könnten jeden Fall prüfen, bevor sie entscheiden, ob sie hier ein Asylrecht genießen oder ob sie Wirtschaftsmigranten sind und an ihren Herkunftsort zurückgeschickt werden sollten.

„Ich glaube es wäre zwingend notwendig die Personen zu retten und einem entsprechenden screening zu führen bevor man sie nach Europa bringt. Alles andere wäre nicht wirklich verantwortbar“, meint dieser Experte. Er sagt es nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch, weil seiner Ansicht nach sowohl die Operation Sophia als auch die der NGOs einen „Sog-Effekt“ ausüben.

Er erwähnt einen weiteren Aspekt, der berücksichtigt werden muss: Daesh rekrutiert Afrikaner aus dem Sahel, die bereits in Tripolis angegriffen haben. Aus diesem Grund schätzt er, dass sie unter den Migranten auf den Booten ungefiltert in Europa ankommen können.

An dieser Stelle lohnt es sich aber daran zu erinnern, dass die überwiegende Mehrheit der sogenannten „Dschihadisten“ Anschläge auf europäischem Boden von Menschen begangen wurde, die hier geboren oder aufgewachsen sind, wie die Attacken in Paris oder Katalonien. Es stimmt auch, dass es in manchen Fällen ein radikalisierter Flüchtling war, wie der vom jungen Mann, der die Passagiere eines bayrischen Zuges mit einer Axt angriff. Übrigens habe er sich schon in Deutschland radikalisiert, wie damals berichtet wurde.

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Hilfsorganisationen bestehen darauf, dass eine legale und sichere Durchreise für Asylbewerber notwendig ist. Während im zentralen Mittelmeerraum eine Lösung für den sogenannten „Migrationsstrom“ gefunden wird, wendet Italien sein Abkommen mit Libyen bereits ohne große europäische Kontrolle an.

In diesem Jahr sind laut den neuesten Daten von der IOM mehr als 9.500 Migranten oder Asylbewerber in Italien über das Mittelmeer gekommen. Bis jetzt sind mindestens 385 Menschen auf dieser Reise gestorben. Inzwischen sind fast 6.000 Migranten nach Libyen zurückgebracht worden.

„Alles deutet darauf hin, dass die automatische (illegale) Rückführungen weiterhin steigen werden. Es passiert immer öfter“, behauptet Laura Lanuza, Sprecherin der NGO Proactiva Open Arms. Und warnt: wenn die libyschen Küstenwächter die Personen vom Mittelmeer zurücknehmen, retten sie sie nicht, sie „fangen sie ein“.

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